1. Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, daß die Wirkung der griechischen Tragödie nicht auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwillen ruht, sondern in der Besonderheit des Stoffes zu suchen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. (Gesammelte Werke2/3: 269)
2. Es ist zu verwundern, daß die Tragödie des Sophokles nicht vielmehr empörte Ablehnung beim Zuhörer hervorruft, eine ähnliche und weit mehr berechtigte Reaktion .... Denn sie ist im Grunde ein unmoralisches Stück, sie hebt die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen auf, zeigt göttliche Mächte als die Anordner des Verbrechens und die Ohnmacht der sittlichen Regungen des Menschen, die sich gegen das Verbrechen wehren. Man könnte leicht glauben, daß der Sagenstoff eine Anklage der Götter und des Schicksals beabsichtige, und in den Händen des kritischen, mit den Göttern zerfallenen, Euripides wäre es wahrscheinlich eine solche Anklage geworden. Aber beim gläubigen Sophokles ist von dieser Verwendung keine Rede; eine fromme Spitzfindigkeit, es sei die höchste Sittlichkeit, sich dem Willen der Götter, auch wenn er Verbrecherisches anordne, zu beugen, hilf über die Schwierigkeit hinweg. Ich kann nicht finden, daß diese Moral zu den Stärken des Stückes gehört, aber sie ist für die Wirkung desselben gleichgültig. Der Zuhörer reagiert nicht auf sie, sondern auf den geheimen Sinn und Inhalt der Sage. (Gesammelte Werke 11:343)
3. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch
das unsrige hätte werden können, wiel das Orakel vor unserer
Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn.
Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die
Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater
zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. (Gesammelte
Werke2/3: 269)
4. Das Altertum hat uns zur Unterstützung
dieser Erkenntnis einen Sagenstoff überliefert, dessen durchgreifende
und allgemeingültige Wirksamkeit nur durch eine ähnliche Allgemeingültigkeit
der besprochenen Voraussetzung aus der Kinderpsychologie verständlich
wird. Ich meine die Sage vom König Ödipus und das gleichnamige
Drama des Sophokles. (Gesammelte Werke 2/3:267)
5. Mounet-Sully prit le manuscrit d’Œdipe roi et traduisit
les vers du poète, en language vulgaire, ne reculant pas devant
une expression triviale si elle donnait plus de force et d’énergie
au caractère du personage. La dispute entre Œdipe et Tirésias,
les imprécations contre Créon dégénéraient
en véritable querelle de cabaret. Jocaste s’exprimait comme
une femme du peuple. Mais qulle fureur, quelle passion et quelle
intensité de vie chez tous ces personnages! [...]
—Voilà la maquette du personnage, me dit Mounet-Sully.
C’est Oedipe tel que Sophocle l’a vu pour la première fois.
L’art a pu corriger les aspérités du rôle, mais je
demeurerai toujours l’Oedipe que j’ai essayé de vous faire voir.
(Vernay 138-139)
6. J’avais vu en Oedipe l’homme qui se révolte
contre la Destinée, qui est fier de sa force. Il discute les
ordres des dieux; il ne se soumet pas aux prophéties. En voulant
les éviter, il les réalise, et il tombe dans le piège
qui lui est tendu par les dieux jaloux de leur autorité.
Ce fort contient en lui la quintessence de l’humanité
orgueilleuse et rebelle au Divin. Il est une sorte de Prométhée
qui ne verrait point le vautour, et chacun de ses cries est comme un secouement
de chaînes invisibles. Oedipe représente la révolte
de l’instinct et de l’intelligence contre l’aveugle fatalité, et
la défaite terminale de l’homme. (Mounet-Sully 126-127)
7. Quelle plus malencontreuse idée que d’avoir fait réciter les strophes des chœurs par des jeunes filles! Des jeunes filles, dieux bons! dans ce chœur dont on invoque sans cesse le témoignage au sujet d’événements qui appartenaient déjà au passé lointain! Des jeunes filles chargées de prononcer sur ces fatales énigmes de l’inceste? Où est la vérité, où est la pudeur, où est la Grèce? (Cited in Nostrand 82).
8. Ich hatte ihm, wie in jedem Fall, mitgeteilt, daß ich den "Ödipus" nun endlich aufzuführen vorhätte; ich war, wie in allem, was zum künstlerischen Betrieb gehört, auch darin unbeschränkter Herr; so nahm er es denn auch rein als Mitteilung hin. Ich hörte aber bald von andern, daß er sich mit kopfschüttelnden Bedenken darüber ausgesprochen habe; ihm schien grade jetzt ein starker, packender Erfolg nötig, mit einem kräftigen, modernen Stück; "da will er nun mit dem Ödipus kommen! Was nützt uns der Ödipus!" Ich glaube, an seiner Stelle hätten von hundert neunundneunzig ebenso gedacht; wer kannte denn den Sophokles? Die gelehrten Übersetzer hatten ihn nur scheinlebendig, zum Teil mausetot gemacht. (Wilbrandt 1905:43-44)
9. Als nun aber die Tragödie am Abend erschien—für die lebendige Bühne von mir übersetzt, die Chorgesänge in Mitspieler aufgelöst; Emerich Robert als Ödipus, in griechischer Wohlgestalt und Beredsamkeit, aber mit der Freiheit, dem Feuer, den Seelentönen unserer Tage; Joseph Lewinsky als Teiresias von erschütternder Gegenwirkung, höchster Redekraft; auch die geringeren Rollen lebensvoll; und nun die Handlung mit ehernen Schritten auf die vernichtende Enthüllung eines dunklen Rätsels unaufhaltsam zuschreitend, bis das Schicksalstor aufspringt—als das alles sich vollendet hatte und der Vorhang fiel, da brach wieder ein Sturm des Beifalls los wie in Goethes "Faust"; er konnte nur um ein weniges geringer sein. Ich verließ geschwind meine Loge, damit nicht wieder begeistert übertreibende "Demonstrationen" wie damals erfolgten; überallhin begleitete mich aber das brausende Getöse. Ich kam auf die Bühne; dort stand Baron Bezecny, allein, mit so erregten, bewegten, erschütterten Zügen, wie ich nicht often einen Menschen gesehn. "Herr Direktor!" stieß er hervor. "So einen Eindruck hab' ich noch nie im Theater erlebt!"
10. Der Erfolg der Aufführung, die höchst sorgfältig vorbereitet worden, war ein durchschlagender. Die Zuschauer, die in die fremdartige Kompositionsweise der Tragödie mit feinem Verständnisse eingingen und keinen großen Moment der Handlung fallen ließen, verdienen eigentlich das vornehmste Lob; Wien ist für die große Tragödie, von der es sich früher mehr oder minder wehleidig zu verschließen pflegte, mündig geworden. Das ist die erfreulichste Wahrnehmung, die sich uns an die Aufführung des "König Ödipus" knüpft. (Speidel, quoted in Smekal 213-214)
11. Er verdeutlicht das, was bei Sophokles nur angedeutet ist. In der Erleichterung, ausgelöst durch die irrige Annahme, das Orakel habe sich als falsch erwiesen, gibt er in einer charakteristischen Fehlleistung kund, was er sich bislang selbst nicht eingestanden hat: den Wunsch, den Vater zu töten. Damit wird das Schicksal des Ödipus im Sinne Freuds psychologisiert, der religiöse Sinn des antiken Fatums, zurückgedrängt und aus der Individualpsyche des Ödipus einfühlsam für den modernen Zuschauer verstehbar gemacht. Der Kern seines Dramas liegt in ihm selbst, nicht in einem von außen verhängten Fluch. Die Bestätigung, die Freud hier fand, ist somit ein Zirkelschluß, denn seine Denkweise ist bereits in das eingegangen, woran sie ihre Bestätigung erfährt. Was Freud im Zirkus Busch sah, war nicht der König Ödipus des Sophokles, wie er 425 v. Chr. in Athen uraufgeführt wurde, sondern eine Paraphrase der antiken Tragödie im Geiste moderner Psychologie. (Worbs 262)